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2 Druckwasserreaktoren • Leistung: 1.225 MW/1.300 MW • Typ: PWR/PWR • Hersteller: Siemens/KWU •
Baubeginn: 1. Januar 1970/1. Februar 1972 • Inbetriebnahme: 16. Juli 1974/25. März 1976 •
Abschaltung: 6. August 2011 •[1][2] Beginn Rückbau: 2016 • Ende Rückbau: 2033
Einst leistungsstärkster Reaktor
Das 2011 vom Netz genommene AKW Biblis befindet sich 13 Kilometer nordöstlich von Worms auf der hessischen Rheinseite.[3]
Der erste Reaktor von Biblis, der Anfang der 1970er Jahre beauftragt wurde, war zu jener Zeit der größte und leistungsstärkste Kraftwerksblock der Welt und markierte den Einstieg von RWE in die Atomenergie.[4]
Schon in den 1960er Jahren hatte sich der Bürgermeister von Biblis, Josef Seib, um die Errichtung des AKW bei der Gemeinde bemüht. Das AKW wurde lange Zeit begrüßt, da es als Wirtschaftsfaktor wahrgenommen wurde; zudem schenkte RWE der Gemeinde eine Sporthalle für acht Mio. Deutsche Mark.[5] Gegen die Reaktoren Biblis-A und -B gab es zunächst kaum Widerstände. Dies änderte sich erst, als 1973 bekannt wurde, dass RWE zwei zusätzliche Blöcke C und D plante und dafür 1975 Genehmigungsanträge stellte. Es begannen jahrelange Diskussionen über die Sicherheit der Anlage, insbesondere über die Risiken eines Reaktorunfalls mit Kernschmelze infolge eines Flugzeugabsturzes. "Biblis liegt anfangs in einer Tiefflug-Übungsschneise und wird von Kampfjets häufig direkt überflogen." Biblis-C und -D wurden wegen der Proteste aufgegeben.[6]
Hersteller des Atomkraftwerks waren Siemens und KWU,[2] Eigentümer und Betreiber ist die RWE Power AG. Biblis A (KWB A) mit 1.225 MW Leistung wurde am 16. Juli 1974 in Betrieb genommen, Biblis B (KWB B) mit 1.300 MW am 25. März 1976. Beide Druckwasserreaktoren gingen am 6. August 2011 außer Betrieb.[1] Auf dem Gelände befindet sich auch ein Zwischenlager.
Störfälle
Im Mai 1976 brach die Welle der Nachkühlpumpe, woraufhin eine erhöhte Menge an Jod-131 durch den Kamin austrat; 600 Arbeiter mussten für die Reparatur eingesetzt werden.[7]
Am 10. März 1980 wurde in Biblis A eine erhöhte Menge von radioaktivem Jod-131 bei einem Reaktorstillstand abgegeben.[8]
In Biblis A kam es am 16. Dezember 1987 zu einem Störfall, bei dem aufgrund des Versagens von Ventilen und eines Fehlverhaltens der Betriebsmannschaft radioaktives Wasser außerhalb des Sicherheitsbehälters gelangte.[9] "Dort war (...) die Außenwelt 15 Stunden lang nur noch durch eine Barriere, die sogenannte Zweitabsperrung, vor einer Verstrahlung durch hochradioaktives Kühlwasser aus dem Reaktor-Block A geschützt."[10] Der Vorfall wurde nicht vom Betreiber gemeldet, sondern Tage später von der Aufsichtsbehörde bei einer Untersuchung eines anderen Fehlers am AKW entdeckt.[11] Bei der nachfolgenden Untersuchung stellte der TÜV Bayern fest, dass nur knapp ein nicht mehr beherrschbarer Störfall vermieden wurde und es seit Jahren schwere Verstöße gegen die Sicherheitsvorschriften gegeben hatte.[12]
Die Geschichte dieses Störfalls, der fast zur Schließung von Biblis geführt hätte, sowie die Verschleierung durch RWE und die deutsche Politik, an der auch der damalige Umweltminister Klaus Töpfer beteiligt war, ist durch den "Spiegel" 1988 detailliert aufgearbeitet worden. Dass der Vorfall bekannt wurde, ist nur den Recherchen einiger Mitarbeiter des amerikanischen Fachblattes "Nucleonics Week" zu verdanken. "Nahtlos, geradeso, als habe es die Katastrophe von Tschernobyl und den Hanauer Atomskandal niemals gegeben, setzten so die Herren des Atomstroms und ihre Kontrolleure in den Ministerien die Tradition der "systembedingten Verschleierung" ("Süddeutsche Zeitung") fort, wie sie der bundesdeutschen Atomwirtschaft seit je eigen ist."[13]
Das Ereignis wurde als Störfall mit Stufe 1 der Bewertungsskala INES für nukleare Ereignisse klassifiziert.[14]
Am 21. April 1995 wurde in Biblis A eine "Tropfleckage an einer Erstabsperrarmatur des Not- und Nachkühlsystems" entdeckt; das AKW stand zur Ursachenklärung und Schadenbehebung 475 Tage still.[15]
Am 28. August 2002 wurde festgestellt, dass der Schalter für die automatische Notstandsstromversorgung ausgeschaltet war.[16]
Am 8. Februar 2004 kam es zu einem "Teilausfall der Notstandsstromversorgung von Biblis B zu Biblis A und Notstromfall in Biblis B".[17]
Im September/Oktober 2006 wurde entdeckt, dass in Biblis A und B 15.000 Dübel nicht richtig montiert worden waren, die Rohrleitungen gegen Erdbeben sichern sollen.[18]
Merkel und Hennenhöfer verhinderten vorzeitige Stilllegung
Die Biblis-Reaktoren waren in den 1990er Jahren Grund für einen Dauerstreit zwischen der hessischen Landesregierung, RWE und dem Bund. Als nach 1991 eine rot-grüne Koalition in Hessen regierte, zielte diese auf eine Stilllegung oder zumindest eine Nachrüstung ab. Bei den Reaktoren waren nämlich Teile des Sicherheitssystems nicht ausreichend räumlich getrennt, darüber hinaus waren die Reaktoren unzureichend gegen Erdbeben geschützt und besaßen kein ausreichendes Notstandssystem. Nachdem RWE Sicherheitsauflagen verschleppte, verfügte die Landesregierung eine Stilllegung, die von der damaligen Bundesumweltministerin Merkel und ihrem Abteilungsleiter, dem Atomlobbyisten Gerald Hennenhöfer, wieder aufgehoben wurde. Als 1999 wieder eine schwarz-gelbe Koalition unter Roland Koch die Regierung übernahm, kam das AKW Biblis zunächst ungeschoren davon, galt aber bei den Ausstiegsbeschlüssen unter Schröder als bevorzugter Kandidat für eine Stilllegung.[19]
Rückbau
Im Oktober 2011 schätzte RWE die Kosten für den Abriss auf 1,5 Mrd. Euro und sah sich mit Forderungen nach einem schnellen Abriss konfrontiert.[20] Im November 2011 plante RWE zunächst eine Versiegelung und einen Rückbau nach Jahrzehnten.[21] Am 11. Mai 2012 schließlich gab der Konzern bekannt, dass das Atomkraftwerk Biblis abgerissen und ein Antrag dafür in der zweiten Jahreshälfte eingereicht werden sollten. RWE wollte zugleich die Rechtmäßigkeit des Abrisses prüfen lassen.[22]
2012 legte RWE Verfassungsklage gegen die Stilllegung ein und verlangt Schadenersatz. → RWE reicht Verfassungsklage ein
2014 wurden die Pläne der RWE Power AG zu Stilllegung und Rückbau des Atomkraftwerks Biblis offengelegt. Damit sollten Transparenz und Bürgernähe gewährleistet werden.[23] Am 11. November 2014 begann der öffentliche Erörterungstermin zur Stilllegung; 50 schriftliche Einwendungen, die von 1.000 Bürgern unterschrieben wurden, waren eingegangen.[24]
Nachdem Ende März 2017 die Rückbaugenehmigung erteilt worden war, begann Anfang Juni offiziell der Rückbau, der 15 Jahre dauern soll.[25]
Anfang Juni 2019 waren alle 946 Brennelemente, die sich bei der Abschaltung in den beiden Einheiten befunden hatten, entfernt und in 51 Castoren im Zwischenlager verladen worden.[26]
Mitte 2022 soll die Errichtung einer "Abbaufabrik" zur Behandlung abgebauter Materialien abgeschlossen werden.[27]
Am 2. Februar 2023 wurde ein erster Kühlturm abgerissen, am 23. Februar folgte ein zweiter.[28]
Fernsehbeiträge
- Biblis wird Zwischenlager
"Im Ausland wiederaufbereiteter Atommüll soll auch nach Biblis gebracht werden. Laut Bundesumweltministerium sind in Deutschland drei weitere Zwischenlager vorgesehen."[29]
- Biblis B - Atomkraft Kompromisse bei der Sicherheit
"Fehlende Sicherheitsauflagen für Atomkraftwerke in dem neuen Energiekonzept der Bundesregierung" Quelle: YouTube
(Letzte Änderung: 16.04.2024)
Einzelnachweise
- ↑ 1,0 1,1 IAEO: PRIS - Country Statistics/Germany abgerufen am 27. Dezember 2021
- ↑ 2,0 2,1 IAEO: LES CENTRALES NUCLEAIRES DANS LE MONDE von 1997
- ↑ RWE Power AG: Kernkraftwerk Biblis abgerufen am 27. Dezember 2021
- ↑ Joachim Radkau & Lothar Hahn: Aufstieg und Fall der deutschen Atomwirtschaft. oekom, München 2013. S. 139f.
- ↑ Wiesbadener Tagblatt: Biblis hatte das Atomkraftwerk einst begrüßt vom 5. Juli 2014 (via WayBack)
- ↑ hr-online.de: Streitfall Biblis - Die Geschichte einer Spaltung vom 15. März 2011 (via WayBack)
- ↑ NWZ Online: 3000 Störfälle in deutschen Kernkraftwerken seit 1965 vom 10. August 2006
- ↑ Greenpeace: Der Jahreskalender: März vom 26. April 2006
- ↑ Joachim Radkau & Lothar Hahn: Aufstieg und Fall der deutschen Atomwirtschaft. oekom, München 2013. S. 335.
- ↑ DER SPIEGEL 52/1988: Große Schlamperei Neuer Höhepunkt der Pannenserie in Atommeilern vom 25. Dezember 1988
- ↑ Mitteldeutsche Zeitung: Verspätete Meldungen von Störfällen in deutschen AKW vom 4. Juli 2007 (via WayBack)
- ↑ Zeit Online: Protokoll des Leichtsinns vom 10. März 1989
- ↑ DER SPIEGEL 50/1988: Wir haben sagenhaftes Glück gehabt vom 11. Dezember 1988
- ↑ NDR: INES: Die Skala für nukleare Störfälle vom 29. Februar 2008
- ↑ GRS: Zur Sicherheit des Betriebs der Kernkraftwerke in Deutschland vom Januar 2003 (via WayBack, S. 20)
- ↑ Greenpeace: Der Jahreskalender: August vom 26. April 2006
- ↑ Greenpeace: Der Jahreskalender: Februar vom 26. April 2006
- ↑ Focus Online: Hintergrund: Störfälle in deutschen AKW vom 15. März 2013
- ↑ Joachim Radkau & Lothar Hahn: Aufstieg und Fall der deutschen Atomwirtschaft. oekom, München 2013. S. 370f.
- ↑ Reuters Deutschland: RWE stellt Weichen für Abriss von AKW Biblis vom 21. Oktober 2011 (via WayBack)
- ↑ FR Online: AKW Biblis soll erst einmal versiegelt werden vom 22. November 2011 (via WayBack)
- ↑ Spiegel Online: Atomkraftwerk Biblis soll abgerissen werden von 11. Mai 2012
- ↑ Frankfurter Rundschau AKW Biblis - Anträge für Biblis-Abbau einsehbar vom 5. Mai 2014 (via WayBack)
- ↑ FR Online: BUND warnt vor Gefahren in Biblis vom 11. November 2014 (via WayBack)
- ↑ SWR: Rückbau des KKW Biblis macht Fortschritte vom 15. September 2017 (via WayBack)
- ↑ hessenschau.de: Letzte Brennstäbe verladen - Stillgelegtes Atomkraftwerk Biblis jetzt brennstofffrei vom 3. Juni 2019 (via WayBack)
- ↑ sueddeutsche.de: [1] vom 9. November 2021
- ↑ SWR: Kontrolliert zum Einsturz gebracht - Atomkraftwerk Biblis: Zweiter Kühlturm gefallen vom 23. Februar 2023
- ↑ hr online.de Zwischenlager - Atommüll-Castoren sollen nach Biblis vom 19. Juni 2015 (via WayBack)