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Atompolitik > Merkel: Atomausstieg II (2011)

"Das war´s!"

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AKW Atomkraftwerk Kernkraftwerk Explosion Fukushima Japan 2011 NUCLEAR PLANET EMERGENCY

ZDF heute journal vom 12. März 2011: Explosion im AKW Fukushima

Die Fukushima-Katastrophe vom 12. März 2011 bewirkte eine neuerliche Zäsur in der deutschen Atompolitik.

Im "Spiegel" ist genau die Reaktion der deutschen Politik an jenem Tag dokumentiert worden: Wie das Bekenntnis zur Atomkraft in der CDU-Basis kippte und Merkel im Telefongespräch mit dem bayerischen Ministerpräsidenten Seehofer zum ersten Mal die Idee für ein Moratorium der Laufzeitverlängerung ansprach: ""Behalt es erst mal für dich", bittet Merkel."[1] In der Pressekonferenz am selben Abend hielt Merkel zwar offiziell noch an der Kernenergie fest, leitete aber bereits eine mögliche Wende ein: "Wenn schon in einem Land wie Japan mit sehr hohen Sicherheitsanforderungen und hohen Sicherheitsstandards nukleare Folgen eines Erdbebens und einer Flutwelle augenscheinlich nicht verhindert werden können, dann kann die ganze Welt, dann kann auch Europa und dann kann auch ein Land wie Deutschland mit ebenfalls hohen Sicherheitsanforderungen und Sicherheitsstandards nicht einfach zur Tagesordnung übergehen."

→ bundesregierung.de: Pressestatements von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundesminister Guido Westerwelle zum Erdbeben in Japan am 12. März 2011 (via WayBack)

Am Tag darauf war der Entschluss der Kanzlerin gefasst. ""Das war's!", sagte sie am nächsten Morgen, als sie mit ihrem Büro die Lage erörterte. In Fukushima ging für die deutsche Kanzlerin das atomare Zeitalter zu Ende."[2]

Moratorium und Demonstrationen

Drei Tage später verkündete Merkel zunächst ein Atommoratorium, mit dem die AKW einer Sicherheitsprüfung unterzogen werden und die sieben ältesten Reaktoren für drei Monate vom Netz gehen sollten.[3]

Für die Anti-Atomkraftbewegung war die Fukushima-Katastrophe Anlass, das Moratorium nicht als letztes Wort hinzunehmen und stattdessen – mit wachsender Unterstützung der Bevölkerung – einen endgültigen Atomausstieg zu fordern. Am 26. März 2011 kam es zu den möglicherweise größten Anti-AKW-Demonstrationen überhaupt mit deutschlandweit 250.000 Teilnehmern. "Allein in Berlin gingen demnach 120.000 Atomkraftgegner auf die Straße, in Hamburg folgten 50.000 Menschen den Protestaufrufen, in Köln und München jeweils 40.000."[4]

Angesichts der bevorstehenden Wahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz dürften die Massendemonstrationen maßgeblich dazu beigetragen haben, dass Angela Merkel innerhalb kurzer Zeit die Laufzeitverlängerung rückgängig machte – diesmal ohne Absprache mit der Atomindustrie – und einen erneuten Atomausstieg einleitete.

Nachdem die evangelische Kirche schon 1987 nach Tschernobyl einen Atomausstieg gefordert hatte, die Meinung innerhalb der katholischen Kirche aber noch lange gespalten war, lehnte im März 2011 nun auch die Vollversammlung der deutschen katholischen Bischöfe die Atomkraft endgültig ab. → Kirchen und Atomkraft

Ausstiegsbeschluss und Widerstände

Der Entschluss Merkels zum Atomausstieg dürfte – zieht man ihre Politik bis dahin in Betracht – nicht nur auf eine neue innere Überzeugung (die wir ihr nicht absprechen wollen), sondern auch auf wahlkampftaktische Überlegungen zurückzuführen sein. Dies belegt eine Äußerung des ehemaligen Wirtschaftsministers Rainer Brüderle vom März 2011 vor dem BDI, in der die Atomwende als Wahlkampfmanöver bezeichnet wurde.[5] Im März 2011 waren sich die Teilnehmer einer Infratest-Umfrage über die Motive von Angela Merkels Ausstiegskurs einig: 68 % glaubten an ein Wahlkampfmanöver, während darin nur 26 % einen glaubwürdigen Kurswechsel erkannten.[6]

Im März 2011 setzte Angela Merkel die "Ethikkommission für eine sichere Energieversorgung" ein. Deren Aufgabe war es, "einen gesellschaftlichen Konsens zum Atomausstieg zu finden und eine "Energiewende mit Augenmaß" einzuleiten. Die Kommission solle vorgeben, wie der "Übergang in das Zeitalter der erneuerbaren Energien" zu gestalten sei, hieß es in einer Mitteilung der Regierung."[7] Im Abschlussbericht der Kommission wurde ein schrittweiser Ausstieg aus der Atomkraft empfohlen. → bmbf.de: Deutschlands Energiewende – Ein Gemeinschaftswerk für die Zukunft vom 30. Mai 2011 (via WayBack)

Die Bundesregierung folgte nicht allen Empfehlungen der Kommission. So lehnte sie es ab, den Ausstieg noch vor Ablauf des Jahrzehnts durchzuführen.[8]

In ihrer Regierungserklärung am 9. Juni 2011 begründete Merkel die Atomwende wie folgt: ""Die dramatischen Ereignisse in Japan sind ein Einschnitt für die Welt, ein Einschnitt für mich ganz persönlich", erklärt sie und erinnert an die Opfer der Atomkatastrophe. (...) "Das Restrisiko der Kernenergie habe ich vor Fukushima akzeptiert", räumt Merkel ein. Sie sei überzeugt gewesen, dass ein solcher Unfall in einem Hochtechnologieland nicht eintreten werde. Fukushima allerdings habe gezeigt, dass man sich auf diese Risikoannahmen nicht verlassen könne. Sie habe deshalb im Sinne einer "zuverlässigen, umweltverträglichen und sicheren Energieversorgung" in Deutschland eine Neubewertung vorgenommen."[9]

Merkels Ausstiegskurs war nicht unumstritten. Im März 2011 distanzierten sich zunächst einige Koalitionspolitiker vom Ausstiegskurs Merkels: Guido Westerwelle (FDP), Rainer Brüderle (FDP), der die Deutschen als "hysterisch" bezeichnete, und Erwin Huber (CSU).[10] Im April warnte auch der hessische Ministerpräsident und stellvertretende CDU-Vorsitzende Volker Bouffier vor einem schnellen Ausstieg.[11] Noch im Juni 2011 brandete Merkel eine Welle von Bedenken der Atomkraftfreunde in der eigenen Koalition entgegen – dieselben, die sie kurz zuvor selbst artikuliert hatte: Versorgungssicherheit, Strompreis, Klimawandel, Deutschlands Sonderweg, Arbeitsplätze, Anfechtbarkeit vor Gericht.[12] Einige Atomlobbyisten in der Union lehnten den Atomausstieg grundsätzlich ab, wie der Unionsfraktionsvize Michael Fuchs (CDU), Kurt Joachim Lauk, der Präsident des CDU-Wirtschaftsrats und Michael Glos (CSU). → AtomkraftwerkePlag: Die Lobbyisten.

So_teuer_wie_möglich_-_Der_letzte_Kampf_der_Atomindustrie

So teuer wie möglich - Der letzte Kampf der Atomindustrie

Dokumentation zum Atomausstieg, die am Mittwoch, dem 20. Juli, im ARD ausgestrahlt wurde. (Hochgeladen am 24.07.2011, 43:27 Minuten)

Wegen der fehlenden Verankerung des Atomausstiegs im Grundgesetz war keineswegs sichergestellt, dass CDU, CSU und FDP am Atomausstieg festhalten würden. Vergleicht man Äußerungen von Politikern vor und nach der Atomwende, wie sie die "Süddeutsche Zeitung" am 30. Juni 2011 zusammenstellte, war die Kehrtwende zum Atomausstieg sehr schnell erfolgt und legte den Gedanken nahe, dass eine weitere Kehrtwende jederzeit möglich war.[13] → AtomkraftwerkePlag: Unumkehrbar oder doch nicht?

Im "Focus" wurde darauf hingewiesen, dass es nicht ausreichend sei, den Atomausstieg auf Deutschland zu begrenzen. Das Medium forderte Merkel auf zu versuchen, auch andere europäische Länder davon zu überzeugen.[14] Die Bundesregierung vermeidet jedoch eine direkte Einflussnahme auf die Atompolitik anderer Staaten. "Die Bundesregierung respektiert es, wenn sich andere Staaten für eine weitere Nutzung der Kernenergie entscheiden. (...) Deutschland setzt mit der Energiewende Maßstäbe – in der EU und weltweit. Viele Länder folgen unserem Vorbild und stellen ihre Kernkraftwerke auf den Prüfstand."[15]

Anti-Atomkraftbewegung: Neue Herausforderungen

Für die Antiatomkraftbewegung hat der Atomausstieg einen zwiespältigen Charakter: Einerseits wurde damit eine Grundforderung erfüllt, andererseits aber wurde der Atomausstieg ein Jahrzehnt in die Zukunft verschoben und nicht im Grundgesetz fixiert. Durch den Ausstiegsbeschluss wurde der Bewegung gleichermaßen der Wind aus den Segeln genommen, und für weitergehende Forderungen, z. B. einem schnelleren oder sofortigen Ausstieg, konnte die Bevölkerung nicht mehr motiviert werden. Eine Enttäuschung war auch, dass die Grünen aus wahlkampftaktischen Gründen von einem vorzeitigen Ausstieg bis zum Jahr 2017 abrückten und den Zeitplan der schwarz-gelben Koalition unterstützten.[16]

Die Anti-Atomkraftbewegung wollte, so eine Meldung im Oktober 2012, künftig ihr Augenmerk "auf Organisationen, Firmen und Institutionen richten, die unabhängig von deutschen Ausstiegsbeschlüssen weiterhin auf Atomkraft setzen. Das ist das Ergebnis der Herbstkonferenz am Wochenende, auf der sich jährlich AktivistInnen aus ganz Deutschland austauschen. Außerdem soll die Kooperation mit ausländischen Gruppen verstärkt werden." Es sollte aber der Eindruck einer Einmischung in die Energiepolitik anderer Länder vermieden werden.[17]

Atomkraftära in Deutschland vor dem Ende

Ab 2012 wurde der Atomausstieg in Deutschland kaum mehr in Frage gestellt, und auch der Begriff selbst trat mehr und mehr in den Hintergrund. Intensiv diskutiert und kritisiert wurde statt dessen die konkrete Umsetzung der Energiewende als ein zentrales Vorhaben der Regierung Merkel.

In einem Interview im Oktober 2012 versuchte der ehemalige Bundesumweltminister Altmaier, die Energiewende historisch einzuordnen, indem er sie als besondere technologische Herausforderung für die Wirtschaft und als "Mondlandung" Deutschlands bezeichnete. Die Energiewende sah Altmaier als Chance, neue ökologische Techniken zu entwickeln und die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands zu stärken.[18]

Am 4. Januar 2013 erklärte Altmaier, dass die Ära der Atomenergie in Deutschland endgültig Geschichte sei: "Ich sehe unter keiner denkbaren politischen Konstellation die Chance auf eine Renaissance der Kernkraft in Deutschland". Die Erklärung erfolgte als Reaktion auf eine Äußerung des EU-Energiekommissars Oettinger, der einen Neubau von Atomkraftwerken in Deutschland für möglich gehalten hatte.[19]

In keinem der Programme von CDU/CSU, SPD, Grünen und FDP zur Bundestagswahl 2013 wurde der Atomausstieg noch in Frage gestellt.[20] Im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD von 2013 wurde bestätigt: "Wir wollen die Entwicklung zu einer Energieversorgung ohne Atomenergie und mit stetig wachsendem Anteil Erneuerbarer Energien konsequent und planvoll fortführen."[21]

Es zeigte sich schließlich, dass nicht nur die Politik kein Interesse mehr an der weiteren Nutzung der Atomenergie hatte, sondern auch die Atomkonzerne. Im Mai 2013 wies das Deutsche Atomforum (DAtF), die wichtigste Lobbyorganisation, darauf hin, dass sich aufgrund sinkender Strompreise und der Brennelementesteuer kaum mehr Geld mit Atomkraft verdienen lasse. Die Atomwirtschaft erwäge einen vorzeitigen Ausstieg.[22]

Der "Spiegel" enthüllte im Mai 2014, dass die drei großen Atomkonzerne E.ON, RWE und EnBW ihr Atomgeschäft komplett an den Staat abgeben wollten und der Betrieb bis 2022 von einer öffentlich-rechtlichen Stiftung übernommen werden sollte. Die Konzerne wollten zwar rund 30 Mrd. Euro für den Rückbau einbringen, weitere Risiken sollte aber der Staat tragen.[23] Angela Merkel lehnte eine derartige Stiftung und eine Verlagerung der Risiken auf den Bund zunächst ab.[24]

Am 27. Juni 2015 wurde das Atomkraftwerk Grafenrheinfeld (Bayern) aus Kostengründen ein halbes Jahr früher als geplant vom Netz genommen.

Am 26. Juni 2017 unterzeichneten die Bundesregierung und die Atomkonzerne einen Vertrag, mit dem die Verantwortung für die Zwischen- und Endlagerung des Atommülls an den Bund überging; die Atomkonzerne zahlten im Gegenzug 24 Milliarden Euro in einen staatlichen Entsorgungsfonds ein.[25]

Entgegen der Auffassung einiger Unionspolitiker, wie Joachim Pfeiffer, Armin Laschet und Tilman Kuban, die den Atomausstieg aus Klimaschutzgründen in Frage stellten, erklärte die Bundesregierung im Dezember 2019, am Ausstieg wie geplant festhalten zu wollen.[26]

Mitte Oktober 2022 beschloss Bundeskanzler Olaf Scholz einen Weiterbetrieb der Einheiten Emsland (Niedersachsen), Isar 2 (Bayern) und Neckarwestheim II (Baden-Württemberg) bis 15. April 2023. Der Bundestag und der Bundesrat stimmten im November 2022 zu. Die Bundesregierung versprach sich davon "einen Beitrag zur Sicherung der Stromversorgung über den Winter" 2022/2023.[27]

Im Dezember 2023 forderte die CDU in ihrem neuen Grundsatzprogramm allerdings, die abgeschalteten AKW wieder in Betrieb zu nehmen und neue zu bauen. Der bayerische Ministerpräsident Söder forderte die Akzeptanz neuer, kleinerer Atomkraftwerke sowie die Weiterentwicklung der Kernfusion.[28]

Zur Geschichte der Energiewende siehe → AtomkraftwerkePlag: Inkonsequente Energiepolitik

(Letzte Änderung: 17.02.2024)

Einzelnachweise

  1. DER SPIEGEL 12/2011: Außer Kontrolle vom 20. März 2011
  2. DER SPIEGEL 14/2011: Das war´s vom 3. April 2011
  3. Bundesregierung: Kernkraftwerke kommen auf den Prüfstand vom 15. März 2013 (via WayBack)
  4. Spiegel Online: Rekord-Demos in Deutschland - Atomstreit trifft Koalition mit voller Wucht vom 26. März 2011
  5. Spiegel Online: Peinliche Atombeichte - Merkels Wahlkampf-GAU vom 24. März 2011
  6. Infratest: Aussetzung der Laufzeitverlängerung gilt nicht als glaubwürdiger Kurswechsel vom März 2011 (via WayBack)
  7. Der Tagesspiegel: Was war die Aufgabe der Ethikkommission? vom 29. Mai 2011
  8. Zeit Online: Töpfer-Kommission gegen Standby-AKW vom 30. Mai 2011
  9. Süddeutsche.de: Die Atomkanzlerin erklärt ihren Ausstieg vom 9. Juni 2011
  10. Spiegel Online: Westerwelle geht auf Distanz zu Merkel vom 19. März 2011
  11. stern.de: Hessens Ministerpräsident Bouffier im Interview - Atomkraft - warum nicht? vom 13. April 2011
  12. Süddeutsche.de Wie Merkel um die eigene Mehrheit kämpfen muss vom 9. Juni 2011
  13. Süddeutsche.de: Atomausstieg: Zitate einer einzigartigen Wende vom 30. Juni 2011
  14. Focus Online: Ausstieg mit Makel vom 30. Mai 2011
  15. Bundesregierung: Kernkraft - Fragen und Antworten abgerufen am 6. Juli 2013 (via WayBack)
  16. RP Online: Höhn: Grüne werden am Atomausstieg 2022 nicht mehr rütteln vom 30. Juni 2011
  17. taz.de: Anti-AKW-Bewegung sucht neue Gegner - Rückzug ins internationale Geschäft vom 30. Oktober 2012
  18. Welt Online: "Die Energiewende war unsere Mondlandung" vom 30. Oktober 2012
  19. Spiegel Online: Energiewende in Deutschland - Altmaier schließt Atomkraft für alle Zeiten aus vom 4. Januar 2013
  20. FAZ.net: Pläne der Parteien (7) - Keiner rüttelt am Atomausstieg vom 18. September 2013
  21. Bundesregierung: Deutschlands Zukunft gestalten - Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD von 2013
  22. Der Tagesspiegel: Kernkraft-Kongress - Atomlobby droht mit vorzeitigem Ausstieg vom 14. Mai 2013
  23. Spiegel Online:Plan der Energie-Konzerne: Bund soll Abriss von Atom-Meilern finanzieren vom 11. Mai 2014
  24. Spiegel Online: Ruf nach Stiftung: Merkel lehnt Übernahme von Atom-Altlasten ab vom 16. Mai 2014
  25. t-online.de: 24 Milliarden Euro - Energieriesen unterzeichnen Entsorgungspakt vom 26. Juni 2017 (via WayBack)
  26. n-tv.de: Unions-Politiker gegen Ausstieg - Merkel pfeift Atomkraft-Befürworter zurück vom 18. Dezember 2019
  27. Zeit Online: Bundesrat billigt Aufschub von Atomausstieg vom 25. November 2022
  28. BR 24: Zurück zur Atomkraft: Unverzichtbar oder Scheindebatte? vom 29. Dezember 2023
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