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29. November 1955 • Partielle Kernschmelze • INES-Stufe 4 (Unfall)[1]
3. Januar 1961 • Unkontrollierte Kettenreaktion, explodierender Reaktor • INES-Stufe 4 (Unfall)[2][1]
1955: Partielle Kernschmelze im EBR-1
Das Idaho National Laboratory befindet sich in einer Wüste 29 Kilometer südöstlich der Stadt Arco im Bundesstaat Idaho. Der Standort war und ist Schauplatz für Projekte und Experimente im Bereich der Atomenergie.[3]
1955 und 1961 kam es auf dem Gelände zu zwei Atomunfällen.
Der erste Unfall ereignete sich im Experimental Breeder Reactor (EBR-1). Der Schnelle Brüter ging nach zweijähriger Bauzeit 1951 in Betrieb und besaß eine Leistung von 0,2 MW. Nach einer Berechnung von 1953 erzeugte er für jedes gespaltene Atom nur ein neues Atom. Als der EBR-1 am 29. November 1955 einem Test zur Leistungssteigerung unterzogen wurde, unterlief einem Techniker ein folgenschwerer Fehler. Mit einem Knopf schob er versehentlich einen sich langsam bewegenden Kontrollstab (statt eines sich schnell bewegenden) in den Reaktorkern. Der Techniker bemerkte den Fehler zwar sofort, aber bereits nach wenigen Sekunden war die Hälfte des radioaktiven Kerns geschmolzen. Der EBR-1 wurde 1964 stillgelegt.[1][3][4][5]
Die partielle Kernschmelze wurde in der INES-Skala mit der Stufe 4 (Unfall) bewertet.[1]
Am 23. Juli 1956 wurden vier Menschen verstrahlt, da eine radioaktive Reaktorkomponente unzureichend abgeschirmt war.[6] Am 20. März 1958 wurden bei einem Routinetransfer von radioaktivem Abfall zur Lagerung elf Arbeiter verstrahlt.[7]
1961: Überreaktion und Explosion im SL-1
Der zweite Unfall in Idaho Falls ereignete sich im Jahr 1961, im Reaktor SL-1. Er ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass Atomkraftwerke auch dann, wenn sie vorübergehend zu Wartungszwecken abgeschaltet worden sind, ein großes Gefahrenpotenzial aufweisen.
Der Reaktor diente ab 1958 zur Stromerzeugung und war für militärische Anlagen vorgesehen, wie z. B. Radarstationen. Er sollte besonders leicht zu betreiben, zu transportieren und zu montieren sein. Am 23. Dezember 1960 wurde der SL-1 zu Wartungsarbeiten abgeschaltet und sollte am 4. Januar 1961 wieder hochgefahren werden, wozu es jedoch nicht kam.[8]
Eine detailgenaue Schilderung der Vorkommnisse vom 3. Januar 1961 findet man in einem Artikel des "Spiegel" aus dem Jahr 1977. Danach sollten drei Angestellte "Regelstabantriebe montieren und den Reaktor zur Zündung fertigmachen." Besondere Vorsicht war bei Regelstab Nr. 9 geboten; wurde dieser zu weit herausgezogen, konnte der Reaktor in kürzester Zeit außer Kontrolle geraten. Um 21.01 Uhr wurde Strahlenalarm bei Feuerwehrdepots und der Sicherheitszentrale, die einige Kilometer entfernt waren, ausgelöst. Nachdem Rettungsmannschaften zunächst in mehreren Hilfsgebäuden der Anlage stark erhöhte Strahlung gemessen hatten, drangen sie in das Reaktorgebäude ein, das völlig zerstört war. Messgeräte zeigten eine tödliche Strahlungsdosis von 1.000 rad an. Zwei Arbeiter waren tot, ein dritter starb kurze Zeit später. Es wurden überall radioaktive Substanzen gefunden, darunter Kobalt-58, Chrom-51 und Yttrium-91.[9]
Die Rekonstruktion des Unfalls ergab, dass wahrscheinlich der zentrale Regelstab Nr. 9 zu stark herausgezogen worden war. Dies hatte zu einer unkontrollierten Kettenreaktion und einer Explosion des Reaktors geführt.[9][8][2] Bei der aufgetretenen Superkritikalität soll sich die Leistung des Reaktorkerns innerhalb von vier Millisekunden auf 20.000 MW, das 6.000fache des Normalwerts, erhöht haben.[10]
Der größte Teil der radioaktiven Substanzen verblieb wohl in den Gebäuden, ein Zehntel soll aber laut "Spiegel" in die Umwelt freigesetzt worden sein.[9] 1991 wurde eine hohe Konzentration von Jod-131 in der Vegetation und der Luft rekonstruiert, die zum Teil die hundertfache Höhe des Normalwerts erreichte.[11][12]
Das US-Militär gab das SL-1-Reaktorprogramm nach dem Unfall sofort auf.[10] Die durch den Unfall entstandenen Kosten wurden mit 26 Mio. US-Dollar angegeben.[13]
Der Vorfall in Idaho Falls wurde in der INES-Skala mit der Stufe 4 (Unfall) bewertet.[1]
Ab 1961: Material-, Design- und Sicherheitstests im EBR-2
Als Nachfolger des EBR-1 wurde 1961 im Rahmen des US Integral Fast Reactor (IFR) program der EBR-2 in Betrieb genommen. Der schnelle Brüter besaß laut "World Nuclear Association" eine Leistung von 20 MW, wurde für Material-, Design- und Sicherheitstests genutzt, später auch zur Stromerzeugung für Anlagen am Standort Argonne-West in Idaho. Laut Aussage von Argonne konnte bei Tests im Jahre 1986 demonstriert werden, dass nach einem simulierten Kühlmittelverlust eine sichere Abschaltung und eine Kühlung des Reaktors möglich war. Die Temperatur stieg kurzzeitig deutlich an, fiel aber danach wieder, ohne dass der Betreiber eingreifen musste.[14][5][15]
Der Brüter wurde 1994 auf Beschluss des Kongresses unter der Regierung Clinton abgeschaltet und befindet sich seitdem im Rückbau. Eine weitere Einheit EBR-3 mit 200 bis 300 MW Leistung wurde vorgeschlagen, aber nie realisiert.[14]
→ Amazon: Idaho Falls: The Untold Story of America's First Nuclear Accident vom April 2003 (Taschenbuch)
Fernsehbeiträge zu SL-1
(Letzte Änderung: 16.04.2024)
Einzelnachweise
- ↑ 1,0 1,1 1,2 1,3 1,4 Joachim Radkau & Lothar Hahn: Aufstieg und Fall der deutschen Atomwirtschaft. oekom, München 2013. S. 334.
- ↑ 2,0 2,1 welt.de: Die größten Unfälle in der Geschichte der Wissenschaft vom 24. April 2002
- ↑ 3,0 3,1 Argon National Laboratory: First Unintended Nuclear Meltdown: Idaho Falls 1955 – Experimental Breeder Reactor 1 vom 11. August 2011 (via WayBack)
- ↑ Idaho National Laboratory: EBR-I Factsheet abgerufen am 28. Oktober 2010 (via WayBack)
- ↑ 5,0 5,1 WNA: Fast Neutron Reactors abgerufen am 18. November 2017
- ↑ Greenpeace: Der Jahreskalender: Juli vom 26. April 2006
- ↑ Greenpeace: Der Jahreskalender: März vom 26. April 2006
- ↑ 8,0 8,1 earthmagazine.org: Benchmarks: Three men die in nuclear reactor meltdown vom 5. Januar 2012
- ↑ 9,0 9,1 9,2 DER SPIEGEL 6/1977: Alarm auf Station SL-1 - Unfälle in Atomkraftwerken (III) vom 30. Januar 1977
- ↑ 10,0 10,1 NASA: System Failure Case Studies – Supercritical vom Februar 2007 (via WayBack)
- ↑ inl.gov: The Aftermath abgerufen am 16. Februar 2013 (via WayBack)
- ↑ stern.de: Von Katastrophen und Beinahe-Unglücken (mit Bild) vom 11. Juli 2007 (via WayBack)
- ↑ tagesschau.de: Kosten von Atomunfällen - Fukushima, Tschernobyl und viele andere vom 11. März 2014
- ↑ 14,0 14,1 world nuclear news: USA's Experimental Breeder Reactor-II now permanently entombed vom 1. Juli 2015
- ↑ ne.anl.gov: Passively safe reactors rely on nature to keep them cool abgerufen am 10. Januar 2023