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Reaktoren außer Betrieb > Jülich (Nordrhein-Westfalen)

Hochtemperaturreaktor • Leistung: 15 MW • Typ: Kugelhaufenreaktor (Prototyp) • Hersteller: BBC/Krupp •
Baubeginn: 1. August 1961 • Inbetriebnahme: 16. August 1966 • Abschaltung: 31. Dezember 1988•[1][2]
Beginn Rückbau: ca. 2003 • Ende Rückbau: offen (Abklingzeit 60 bis 80 Jahre)


Bau und Betrieb

Hogetemperatuurreactor-2

AVR Jülich

Der Hochtemperaturreaktor Jülich (AVR) mit 15 MW Leistung wurde am 26. August 1966 in Betrieb genommen und ging am 31. Dezember 1988 außer Betrieb. Hersteller waren BBC/Krupp Reaktorbau (BBK); Eigentümer und Betreiber ist die Jülicher Entsorgungsgesellschaft für Nuklearanlagen mbH (JEN), ein Unternehmen von EWN.[1][2][3]

Bei Baubeginn wurde der Versuchsreaktor, der wegen seiner kugelförmige Brennelemente auch "Kugelhaufenreaktor" genannt wurde, als "deutscher Siebenmeilenschritt ins Atomzeitalter" hochgelobt. Als der Bau sich sieben Jahre hinzog, die ursprüngliche Konzeption aufgrund von Konstruktionsmängeln immer wieder geändert werden musste, wurde es ruhiger um den Reaktor. Er sorgte für eine üppige Ausstattung des Forschungszentrums Jülich in Nordrhein-Westfalen mit Finanzmitteln des Bundes.[4]

Der AVR Jülich war ein heliumgekühlter graphitmoderierter Hochtemperaturreaktor. "Aufgabe der Anlage war es, den vermeintlich sicheren Betrieb und die Verfügbarkeit dieses neuen Reaktortyps zu demonstrieren, Komponenten und insbesondere HTR-Brennelemente zu erproben sowie reaktortypbezogene Experimente durchzuführen." Die Abschaltung nach 21 Betriebsjahren erfolgte aufgrund einer "Serie von gravierenden Pannen und Problemen"[5]

Der Reaktor enthielt während des Betriebs etwa 110.000 Brennelementkugeln, in der ganzen Betriebszeit wurden ungefähr 300.000 eingesetzt.[6]

Zu hohe Betriebstemperaturen

Bereits in einer 2009 veröffentlichten kritischen Studie zur Sicherheit von Kugelhaufenreaktoren machte der Wissenschaftler Rainer Moormann darauf aufmerksam, dass der AVR offenbar mit viel zu hohen Temperaturen betrieben wurde und "wohl nur knapp an einer gewaltigen Katastrophe vorbeigeschrammt ist. Sowohl unkontrollierte Kettenreaktionen im Reaktorkern als auch Explosionen mit einer Beschädigung der Reaktorhülle wären danach möglich gewesen." Moormann bestritt, dass in Kugelhaufenreaktoren keine Katastrophen stattfinden könnten. Der am Forschungszentrum Jülich beschäftigte Moormann wurde dafür als "Nestbeschmutzer" und als "geisteskrank" beschimpft.[7]

Rainer Moormanns Studie ist im Internetauftritt des FZ Jülich in zwei Formaten verfügbar:

→ FZ Jülich: A safety re-evaluation of the AVR pebble bed reactor operation and its consequences for future HTR concepts vom Juni 2008 und AVR prototype pebble bed reactor: a safety re-evaluation of its operation and consequences for future reactors von 2009 (beide via WayBack)

Vergleiche dazu auch → BUND Nordrhein-Westfalen: Kugelhaufenreaktoren - Desaster oder Zukunftsoption? Das Fallbeispiel des AVR Jülich. vom Mai 2009 (zu Technik und Störfall).

Schwerer Zwischenfall 1978

Am 13. Mai 1978 kam es zu einem schweren Zwischenfall. Aufgrund eines Lecks in einem Wärmetauscher gab es einen Wassereinbruch im Reaktor. Dies hatte Auswirkungen auf den Abriss des Reaktors, denn in diesem befanden sich noch "197 zerstörte oder zerstäubte Brennelemente", die danach einbetoniert wurden.[8] Bei dem Zwischenfall sollen große Mengen Strontium-90 und Tritium ausgetreten und in das Grundwasser gelangt sein. Der Reaktor wurde trotzdem mit überhöhter Temperatur weiterbetrieben.[9]

In einer Stellungnahme des Forschungszentrum Jülichs – das distanzierend darauf hinweist, dass es nicht Betreiber des Pannenreaktors war – liest sich dies natürlich ganz anders. Danach habe niemals eine Gefährdung bestanden, wie die "Fachwelt", die Aufsichtsbehörde (NRW-Wirtschaftsministerium) und der TÜV festgestellt hätten.[10]

Aufarbeitung der Betriebsgeschichte

Im April 2014 stellte eine unabhängige Expertengruppe einen Bericht vor, in der die Betriebsgeschichte des Reaktors aufgearbeitet wurde. Die Expertengruppe war damit vom Forschungszentrum Jülich und von der Arbeitsgemeinschaft Versuchsreaktor (AVR) 2011 beauftragt worden.[11]

Im Bericht wird nicht nur die Historie des Reaktors zusammengefasst, sondern es werden auch die Temperaturüberhöhungen beim Betrieb analysiert, die 1974 bis 1976 stark angestiegene Kontamination im Primärkreislauf sowie der Dampferzeugerstörfall von 1978 mit erhöhter Freisetzung von Tritium und Strontium-90. Die Expertenkommission stellte fest, es sei ein "sicherheitstechnisch unmittelbar signifikanter Störfall" gewesen, der in die "höchste oder zweithöchste Meldekategorie (A)" eingeordnet hätte werden müssen.[12]

Die Ergebnisse des Berichts und weitere Dokumente sind auf der Website des Forschungszentrums einsehbar:

Bericht der AVR-Expertengruppe (Kurzfassung) (PDF, 329 kB) vom 26. März 2014
Bericht der AVR-Expertengruppe (Langfassung) (PDF, 4 MB) vom 1. April 2014

Rückbau bis 2017

Am Standort gibt es auch ein Zwischenlager, in dem seit 1993 Castor-Behälter gelagert werden.

1994 waren die Brennelemente aus dem Reaktor entfernt worden. Nach der Stilllegung war für den Versuchsreaktor zunächst ein "sicherer Einschluss" geplant, später wurde das Konzept in eine "Entkernung" und 1999 in einen vollständigen Rückbau geändert, nachdem man eine radioaktive Kontamination des Untergrundes und des Grundwassers festgestellt hatte. Rückbau und Endlagerung bereiten aufgrund der hohen Verstrahlung große Probleme. Der 2003 eingeleitete Rückbau sollte bis 2017 abgeschlossen werden – allerdings mit Ausnahme des Reaktorbehälters, der erst nach einer Abklingzeit im Zwischenlager zerlegt werden kann.[13][14][7] Die Rückbauarbeiten werden von der EWN-Tochter Jülicher Entsorgungsgesellschaft für Nuklearanlagen mbH (JEN) durchgeführt.[3]

Die Bundesregierung gab im September 2012 bekannt, dass der Rückbau des Reaktors mindestens 652 Mio. Euro kosten werde. Das Herausheben des stark verstrahlten Reaktorbehälters wurde immer wieder verschoben: zunächst auf die zweite Jahreshälfte 2012, dann auf die zweite Jahreshälfte 2013,[15] später auf die zweite Jahreshälfte 2014.[16] Nach einer Schätzung vom September 2013 sollen sich die Rückbaukosten sogar auf über eine Mrd. Euro summieren.[8]

Im November 2014 wurde der stark verstrahlte Reaktordruckbehälter schließlich aus der Betonhülle entfernt.[17] Am 23. Mai 2015 wurde er in das Zwischenlager im Jülicher Forschungszentrum transportiert. Der Reaktordruckbehälter wird dort mindestens 60 bis 80 Jahre deponiert, damit die Strahlung abklingen kann, und soll danach zerlegt und endgelagert werden.[18]

Fernsehbeiträge

  • Forschungsreaktor Jülich - Wenn Insider an die Öffentlichkeit gehen
    "[Dr. Rainer Moormann:] "Ja, das ist der AVR-Reaktor, der bis 1988 in Betrieb war. (...) ist die am stärksten mit Strontium verseuchte Nuklearanlage weltweit, obwohl es nur ein sehr kleiner Reaktor ist." Rainer Moormann erfährt, dass das Know-how des gefährlichen Meilers weltweit verkauft wurde. (...) April 2007 schließlich ist sein Bericht fertig. Nach seiner Analyse hätte ein Wassereinbruch im Jahr 1978 fast zu einer Katastrophe geführt." Quelle: Video
2011-_Forschungsreaktor_Jülich_-_Wenn_Insider_an_die_Öffentlichkeit_gehen_(ZDFinfo)

2011- Forschungsreaktor Jülich - Wenn Insider an die Öffentlichkeit gehen (ZDFinfo)

ZDF, info hochgeladen auf YouTube am 11. Oktober 2011

  • Kugelhaufenreaktor
    Mit Originalaufnahmen aus den 60er Jahren.
Kugelhaufenreaktor

Kugelhaufenreaktor

WDR, Aktuelle Stunde vom 11. April 2011

Weitere Links

→ Forschungszentrum Jülich: Fragen und Antworten zum Rückbau des Jülicher AVR-Reaktors (via WayBack)
→ AtomkraftwerkePlag: Thorium-Hochtemperaturreaktor (Hamm-Uentrop)
→ AtomkraftwerkePlag: Forschungszentrum Jülich
→ AtomkraftwerkePlag: Verbrennungsanlage Jülich (JÜV)

(Letzte Änderung: 13.02.2022)

Einzelnachweise

  1. 1,0 1,1 IAEO: PRIS - Country Statistics/Germany abgerufen am 13. Februar 2022
  2. 2,0 2,1 BfS: Kernkraftwerke in Deutschland abgerufen am 12. August 2014 (via WayBack)
  3. 3,0 3,1 JEN: Über uns abgerufen am 13. Februar 2022
  4. Joachim Radkau & Lothar Hahn: Aufstieg und Fall der deutschen Atomwirtschaft. oekom, München 2013. S. 151f.
  5. n-tv.de: Umweltministerium schaltet sich ein - Schwere Fehler im Reaktor Jülich vom 18. Juli 2009
  6. ptka.kit.edu: Stilllegung und Rückbau kerntechnischer Anlagen - Erfahrungen und Perspektiven vom November 2009
  7. 7,0 7,1 Spiegel Online: Rückbau des Reaktors Jülich - Heißer Meiler vom 24. Juli 2009
  8. 8,0 8,1 Kölner Stadt-Anzeiger: Politiker zu Gast bei AVR vom 18. September 2013
  9. WDR: Atomforschung: Weiterentwicklung anstatt Entsorgung? vom 17. März 2014 (via WayBack)
  10. Forschungszentrum Jülich: Aktuell: Informationen zum AVR-Störfall 1978 vom 11. April 2011 (via WayBack)
  11. FZ Jülich: AVR-Expertengruppe legt Bericht vor vom 26. April 2014
  12. FZ Jülich: Bericht der AVR-Expertengruppe (Langfassung) (S. 130, 133ff.) vom 1. April 2014
  13. Aachener Zeitung: Jülicher Reaktorbehälter kommt am 23. Mai in Zwischenlager vom 5. Mai 2015
  14. Deutscher Bundestag: Drucksache 17/11447, Kosten für den Rückbau des AVR Jülich vom 9. November 2012
  15. Aachener Nachrichten: Jülich: Rückbau des Reaktors ist teurer und dauert länger vom 15. September 2012 (via WayBack)
  16. RP Online: Forschungszentrum Jülich - Atomreaktor-Rückbau verzögert sich vom 22. Juli 2013
  17. Handelsblatt: Reaktorbehälter bleibt auf Jahrzehnte in Jülich vom 13. November 2014
  18. WDR: Reaktorbehälter in neuem Zwischenlager: Strahlende Altlast bleibt Jahrzehnte weggesperrt vom 23. Mai 2015 (via WayBack)